Gesundheitsförderung Schweiz

Herausforderung Komplexität

Günter Ackerman, Gesundheitsförderung Schweiz

Fachpersonen der Gesundheitsförderung und Prävention sind gefordert: bei Projekten der Gesundheitsförderung (und Prävention) handelt es sich in der Regel um anspruchsvolle Interventionen in komplexen sozial-räumlichen Systemen. Die Settings, in welchen Gesundheitsförderungsprojekte umgesetzt werden, sind geprägt von einer Vielzahl von Personen und Gruppen, die miteinander in vielfältiger Weise interagieren. Darüber hinaus stehen Settings wie Schulen, Betriebe oder Familien in regem Austausch mit ihrer Umwelt, von welcher sie stark beeinflusst werden und welche sie wiederum selber beeinflussen. Jedes Setting ist als komplexes soziales System grundsätzlich einzigartig und in seiner Funktions- und Wirkungsweise vielschichtig, hoch dynamisch und nur schwer voraussagbar (Wright, 2006). Gesundheitsförderungsprojekte in derart komplexen Systemen sind vor grosse Herausforderungen gestellt. Sie streben in der Regel Wirkungen auf unterschiedlichen Interventionsebenen und mit unterschiedlichen Zeithorizonten an. Da die Wirkungswege sehr vielfältig und von unterschiedlichsten Wechselwirkungen und Rückkoppelungen geprägt sind, können Wirkungen nur sehr bedingt vorausgesagt und geplant werden und es kann bald nicht mehr schlüssig gesagt werden, inwiefern eine beobachtete Wirkung tatsächlich Ergebnis einer bestimmten Massnahme ist (Dörner, 2008). Eine bescheidene Massnahme kann plötzlich eine unverhältnismässig grosse Dynamik auslösen, eine gutgemeinte Aktion provoziert überraschend Widerstände und vielfältige Nebenwirkungen sind eher die Regel als Ausnahmen. Wenn wir es mit sozial-räumlichen Systemen zu tun haben, sehen wir uns also grundsätzlich mit einer hohen Komplexität konfrontiert. In der Gesundheitsförderung ist diese Komplexität besonders hoch - Interdisziplinarität, Multisektoralität, Settingorientierung und partizipative Ansätze sind zusätzliche Elemente, welche die Planbarkeit und Steuerbarkeit erschweren und die Langfristigkeit der Zielhorizonte verunmöglicht die eindeutige Zuschreibung von Wirkungen zu Massnahmen nahezu gänzlich.

Diese Besonderheiten gesundheitsförderlicher Interventionen, der anspruchsvolle Umgang mit komplexen sozial-räumlichen Systemen und die damit verbundenen Schwierigkeiten (Ackermann, Bergman et al., 2009) sollen nicht dazu verleiten, nur noch situationsgeleitetet zu handeln und ganz auf Planung oder Steuerung zu verzichten. Vielmehr geht es darum, der Komplexität und den daraus erwachsenden Konsequenzen mit angemessener Methodik zu begegnen. Qualitätsentwicklung und -management erhält vor diesem Hintergrund eine ganz besondere Bedeutung: Neben qualitätssichernden Aspekten wie etwa der Sicherung der Ressourcen oder der Regelung der Dokumentation steht die Frage im Zentrum, ob und inwiefern eine Organisation oder ein Projektteam in der Lage sind, einen angemessenen Umgang mit der gegebenen Komplexität zu finden: Werden die unterschiedlichen Sichtweisen der verschiedenen Beteiligten angemessen einbezogen? Existieren geeignete Gefässe, um die Dynamik im Projekt und im Umfeld regelmässig reflektieren zu können? Sind die Projektstruktur und die Planungen ausreichend flexibel, um auf ungeplante Entwicklungen reagieren zu können? Wird die Evaluation komplexen Wirkungszusammenhängen und Dynamiken gerecht oder versteift sie sich auf vereinfachende und unrealistische Wirkungsnachweise?

Projektmanagement und Qualitätsentwicklung bei Interventionen in komplexen Systemen haben vorab zwei Hauptfunktionen:

  1. Die Systematisierung gibt Orientierung, hilft die zentralen Aspekte zu erkennen und zu berücksichtigen und macht auf blinde Flecken aufmerksam. Systematisierung schafft gleichzeitig Transparenz und die Grundlage für Evaluation und Rechenschaftslegung.
  2. Die gemeinsame Reflexion ermöglicht die Beurteilung komplexer Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven und schafft eine Basis für die Entwicklung gemeinsam getragener Problemverständnisse, Visionen und Strategien. Gemeinsame Reflexion ist unabdingbar in Projekten mit partizipativem Anspruch.

Das Qualitätssystem quint-essenz fördert sowohl die Systematisierung als auch die gemeinsame Reflexion mit entsprechenden Kriterien, Checklisten, Vorlagen und Instrumenten:

  • Die Qualitätskriterien etwa laden dazu ein, das eigene Projekt gemeinsam zu reflektieren und Stärken zu und Verbesserungspotenziale zu erkennen,
  • das Ergebnismodell hilft, komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen und gut begründet zu priorisieren,
  • die Instrumente zu Chancengleichheit unterstützen Sie dabei, die Herausforderung schwer erreichbarer Zielgruppen anzunehmen, und
  • die Planungs- und Steuerungstabellen helfen Ihnen, die Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, gleichzeitig aber auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können.

Qualitätsentwicklung und -management helfen mit, Komplexität nicht als Bedrohung, sondern als spannende Herausforderung erleben zu können. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in Ihren Projekten und viel Spass an der gemeinsamen Reflexion!

Wirkungsmodelle in der Gesundheitsförderung und Prävention

Lesetipp zu den Herausforderungen durch Komplexität in der Programmentwicklung: Ramalingam, Ben; Jones Harry (2008) Exploring the science of complexity Ideas and implications for development and humanitarian efforts: http://www.odi.org.uk/resources/download/583.pdf

Literatur

Ackermann, Günter; Bergman, Manfred M.; Heinzmann, Claudia; Läubli-Loud, Marlène (2009) Komplexitätsreduktion durch Klassifikationsmodelle in der Gesundheitsförderung und Prävention. In: Kirch, Wilhelm; Middeke Martin und Rychlik, Reinhard (Hrsg): Aspekte der Prävention. Stuttgart: Thieme. 20-29.

Wright, M. T. (2006). Auf dem Weg zu einer theoriegeleiteten, evidenzbasierten, qualitätsgesicherten Primärprävention in Settings. In: Jahrbuch für Kritische Medizin, 43, S. 55-73

Dörner, D. (1996). The logic of failure. Recognizing and Avioding Error in Complex Situations. Cambridge: Perseus.

Letzte Änderung: Donnerstag, 16. Juni 2011, 09:45 Uhr